In den tiefen verborgenen Gängen, die zwischen Regalen voller alter Geschichten und Wunder verborgen lagen, thronte eine große Statue eines Löwen. Doch dieser Löwe aus Stein war nicht immer so reglos gewesen, und heute sollte er wieder zum Leben erwachen.
Die Stadtbibliothek, ein monumentales Gebäude aus rotem Backstein mit hohen Spitzbogenfenstern, war mehr als nur ein Ort für Bücher. Kinder mit leuchtenden Augen durchstreiften die Gänge, suchend nach Abenteuern, die sich zwischen den Buchdeckeln verborgen hielten. Unter diesen Kindern war der junge Fabian, ein blondlockiger Knabe mit einer Brille, die fast zu groß für sein Gesicht erschien.
Fabian war ein neugieriger Junge, der wissbegierig jede Geschichte verschlang, die er in die Finger bekam. Sein Lieblingsplatz war ein kleiner Winkel im hintersten Eck der Bibliothek, stets umgeben von Bauklötzen, die mehr Schätze und Burgen darstellten als bloße Spielzeuge. Seine Fantasie kannte keine Grenzen, und oft baute er aus den Klötzen ganze Welten, die er dann mit Helden und Fabelwesen bevölkerte.
Es war gerade an einem regnerischen Nachmittag, als das Schicksal beschloss, dem jungen Fabian eine Lektion zu erteilen, die weit über die Geschichten in seinen Büchern hinausging.
— Was wäre, wenn du lebendig wärst, großer Löwe? — fragte Fabian eines Tages die steinerne Löwenstatue, die stumm über ihn wachte, während er emsig Burgen aus Bauklötzen errichtete. Er hatte schon oft im Scherz mit der Statue gesprochen, doch diesmal sollte die Antwort ihn in Staunen versetzen.
— Dann würde ich dir vielleicht helfen, deine Träume zu verwirklichen —, kam eine tiefe, brummende Stimme direkt von der Statue. Fabian rutschte vor Überraschung auf seinen Bauklötzen aus und landete mit einem unsanften Plopp auf dem Boden.
— Wer spricht da? — stammelte er und blickte sich um. Doch niemand war zu sehen, außer der Löwenstatue, deren majestätische Mähne nun unglaublicherweise zu zittern schien.
— Ich, Leonard, dein Beschützer aus Stein. — Der Löwe von der Statue stieg herab, sein steinernes Fell glatt und schimmernd in dem gedämpften Licht der Bibliothek. Fabian konnte seinen Augen nicht trauen und trotzdem spürte er keine Furcht, eher eine wachsende Neugier.
— Aber weshalb erwachst du zum Leben? Und gerade jetzt? — fragte er aufgeregt.
— Ich wurde belebt durch deine unermüdliche Fantasie und die Geschichten, die du dir ausdenkst. Aber zu meinem Erwachen gehört auch eine Aufgabe – eine Aufgabe für dich, Fabian.
Leonard der Löwe blickte Fabian mit funkelnden Augen an. Sichtlich verblüfft, aber auch bereit, das Abenteuer anzunehmen, stellte sich Fabian der Herausforderung.
— Eine Aufgabe? Was für eine Aufgabe? — fragte Fabian und rutschte näher heran, die Bauklötze um ihn herum längst vergessen.
— In der Bibliothek ist ein geheimes Buch versteckt. Ein Buch, das sich kein Kind zu lesen traut. Es hält unglaubliches Wissen, aber auch große Gefahren bergen sich unter seinen Seiten. Nur ein wahrhaft mutiges Herz kann es finden und seine Geheimnisse ergründen.
Fabian stand auf und klopfte sich den Staub von seinen Hosen.
— Ich werde dieses Buch finden, Leonard! — rief er mutig. Immerhin hatte er schon viele Bücher gelesen, die von gefährlichen Questen und tapferen Helden handelten. Aber konnte so eine Geschichte wirklich in dieser ruhigen Bibliothek stattfinden?
— Fabian, mein kleiner Freund, — sagte Leonard lächelnd, — nicht alles ist so, wie es scheint. Manchmal ist das größte Risiko, das wir eingehen, nicht zu kämpfen gegen Drachen, sondern gegen die Angst in unserem Inneren. Und sei vorsichtig, manchmal sind die größten Abenteuer dort, wo man sie am wenigsten erwartet.
So begaben sie sich zusammen auf die Suche, wanderten durch endlose Gänge, vorbei an Regalen, die bis zur Decke mit wundersamen und geheimnisvollen Büchern gefüllt waren. Sie mussten einige Rätsel lösen und Prüfungen bestehen, und immer wieder begegneten sie lebendig gewordenen Gestalten aus den Büchern, die den Weg versperrten oder Fabian auf die Probe stellten.
Stunde um Stunde verging, und mit jeder Herausforderung wuchs die Zuversicht in Fabians Brust. Er überwand listige Sphinxen mit cleveren Antworten, trickste Kobolde aus, die sein Vorankommen behindern wollten, und trotzte den Schatten, die aus den dunkelsten Ecken der Bibliothek zu flüstern schienen.
Schließlich, nachdem die letzte Hürde genommen war, standen Fabian und Leonard vor einem alten Lesetisch, auf dem ein dickes, ledernes Buch ruhte. Fabian streckte zitternd seine Hand aus, zögerte jedoch kurz.
— Ich habe Angst, Leonard. Was, wenn ich nicht bereit dafür bin? — gab Fabian zu, seine Stimme ein kleines bisschen leiser als sonst.
— Aber gerade das ist das Risiko, das wir eingehen müssen, mein Junge. Den Mut zu finden, trotz der Angst etwas zu wagen. Und denk daran, ohne ein Wagnis wäre ein Sieg nicht halb so süß.
Mit dieser Ermutigung schlug Fabian das Buch auf. Was darin stand, das verrate ich nicht, denn das ist eine andere Geschichte. Was ich verraten kann, ist, dass Fabian von diesem Tag an anders war. Er hatte gelernt, dass selbst in der ruhigen Welt einer Bibliothek Abenteuer und Mysterien lauern können, und dass es oft Mut bedarf, das Ungewisse zu erforschen.
Leonard der Löwe kehrte zu seinem Platz als Statue zurück, doch sein steinernes Herz schlug jetzt mit der Erinnerung an das große Abenteuer, das er mit dem mutigen Jungen erlebt hatte. Und sollte je ein anderes Kind, vorbereitet auf eine Prüfung des Mutes, vor ihm stehen, wer weiß, vielleicht würde Leonard wieder zum Leben erwacht sein.
Fabian aber wurde nie müde zu erzählen, wie er mit einem Löwen durch die Bibliothek gezogen war. Und wenn er nun mit neuen Bauklötzen spielte, dann waren sie nicht nur Burgen oder Schätze, sondern auch Symbole für Mut und Wagnis, erinnerten sie ihn doch an den Tag, an dem er mit Leonard eine Siegesgeschichte schrieb, die ohne jede Gefahr nicht halb so wertvoll gewesen wäre.