In einer alten, staubigen Bibliothek, in der die Regale bis zur Decke reichten und Bücher so zahlreich waren wie Sterne am Himmel, lebte eine kleine, neugierige Raupe namens Eine. Sie schlängelte sich geschäftig zwischen den zahlreichen Bänden umher, immer auf der Suche nach neuen Geschichten und Abenteuern. Ihre Lieblingsecke war ein beschaulicher Platz nahe dem Fenster, wo das Sonnenlicht durch die bunt bemalten Scheiben auf die Bücher herabschien und die Welt in ein Meer aus Farben tauchte.
An diesem besonderen Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen die Stille der Bibliothek durchbrachen, entdeckte Eine etwas Merkwürdiges. Zwischen zwei großen Lexika, die wie Wächter des Wissens standen, lugte ein kleines, mit Leder gebundenes Buch hervor. Es schien sehr alt zu sein, und sein Einband war mit seltsamen Symbolen verziert. Die Raupe, deren Neugier keine Grenzen kannte, bewegte sich langsam auf das Buch zu.
— Oh, was haben wir denn hier? murmelte Eine und kroch näher.
Als sie das Buch berührte, strahlte es plötzlich ein sanftes, goldenes Licht aus. Eine konnte es kaum glauben – sie hatte ein geheimes Tagebuch gefunden! In ihrem Inneren regte sich die Ahnung, dass dieses Tagebuch der Schlüssel zu einem großen Geheimnis sein könnte. Nur zögerlich öffnete sie die erste Seite.
Plötzlich ertönte eine laute, kräftige Stimme aus der Nähe.
— Was hast du da gefunden, junge Raupe?
Eine blickte auf und erschrak kurz. Vor ihr stand Ein Hahn, majestätisch und in einem bunten Gefieder, das in der Sonne glitzerte. Der Hahn schritt auf der Suche nach einem verschollenen Vers zwischen den Bücherreihen entlang und hatte nun die kleine Raupe und ihr Fundstück entdeckt.
— Es ist ein geheimes Tagebuch, antwortete Eine noch immer ein bisschen eingeschüchtert. Doch ihre Stimme gewann an Stärke, als sie fortfuhr: „Und ich habe das Gefühl, es birgt ein Geheimnis, das nur darauf wartet, entdeckt zu werden!
Der Hahn, der sich jede Menge spannender Geschichten aus den vielen Büchern zusammengelesen hatte, war sofort interessiert.
— Nun, das klingt nach einem Abenteuer, und Abenteuer sind genau das, wofür mein mutiges Herz schlägt! Lass uns gemeinsam sehen, was das Tagebuch zu erzählen hat.
Eine und der Hahn setzten sich zusammen hin und schlugen vorsichtig die erste Seite um. Auf ihr war eine Karte gezeichnet, die tiefer in die Bibliothek hineinführte, an einen Ort, den weder Eine noch der Hahn zuvor gesehen hatten.
— Sieht so aus, als wäre das erste Rätsel an uns, die geheime Kammer zu finden, die auf dieser Karte markiert ist, sagte Eine entschlossen.
Zusammen machten sie sich auf den Weg durch die endlosen Gänge, vorbei an Büchern, die Geschichten von Piraten, Prinzessinnen und ferne Welten erzählten. Die Raupe und der Hahn sprachen miteinander über die Geheimnisse des Lebens und die Geschichten, die ihnen am meisten bedeuteten.
— Wusstest du, dass in jedem Buch eine eigene Welt lebt? fragte Eine.
— Oh ja, bestätigte der Hahn. Jedes Mal, wenn eine Geschichte gelesen wird, atmet die Welt ein klein wenig auf.
Die Suche führte sie an einen verborgenen Gang, so schmal und dunkel, dass es aussah, als würde er im Nichts enden. Aber die beiden neuen Freunde waren unerschrocken und schoben sich Seite an Seite vorwärts.
— Es ist so dunkel hier, flüsterte der Hahn nervös.
— Aber sieh nur, das Licht aus dem Tagebuch leuchtet uns den Weg, entgegnete Eine mutig.
Tatsächlich leuchteten die Seiten des geheimen Tagebuches jetzt hell, sodass sie den Weg klar erkennen konnten. Langsam bewegten sie sich durch den Gang, deren Wände von geheimnisvollen Runen bedeckt waren.
Endlich erreichten sie eine alte, schwere Tür. Mit gemeinsamen Kräften schoben sie diese auf und traten in eine Kammer, die vor langer Zeit vergessen worden war. Überall standen Regale voller staubiger Bücher und in der Mitte der Kammer befand sich ein kleiner Altar, auf dem ein weiteres Buch lag.
— Dies muss das Herzstück der Bibliothek sein, raunte Eine, während der Hahn vorsichtig zu dem Altar schritt.
— Sieh dir das an! rief der Hahn und zeigte auf das Buch. Es war auf der gleichen Weise gebunden wie das Tagebuch.
— Vielleicht ist es das Ziel unserer Reise, flüsterte Eine und ging erwartungsvoll auf das alte Buch zu.
Mit fliegenden Herzen öffneten sie das Buch und stellten fest, dass es leere Seiten enthielt. Aber so waren sie nicht lange. Als das geheime Tagebuch das andere Buch berührte, begannen die Seiten sich mit Worten zu füllen. Es schien, als würde eine Geschichte direkt vor ihren Augen geschrieben. Eine Geschichte über Mut und Freundschaft, über eine tapfere Raupe und einen weisen Hahn, die ein vergessenes Kammer in einer alten Bibliothek entdecken.
— Schau! Wir sind jetzt Teil der Geschichte, sagte der Hahn mit einem Lächeln.
— Unsere eigene Geschichte, ergänzte Eine und das Band zwischen den beiden Freunden wurde mit jedem geschriebenen Wort stärker.
Sie verbrachten den ganzen Tag damit, sich gegenseitig aus dem Buch vorzulesen und erkannten, dass jeder seine eigene Geschichte schreibt, jeden Tag, mit jedem Abenteuer. Und als die Sonne unterging und der Mond seinen Platz am Himmel einnahm, schlossen Eine und der Hahn das Buch und das geheime Tagebuch und verließen die Kammer, bereit, das nächste Kapitel ihres Lebens anzufangen. Denn in einer Welt voller Bücher war dies erst der Anfang ihrer gemeinsamen Geschichten.