Mitten in der Nacht, als der Vollmond hoch am Himmel stand und alles in ein geheimnisvolles Silberlicht tauchte, ratterte Ein Zug gemächlich durch das Land. Der Lokführer glaubte, bis zum Morgengrauen der einzige wache Geist zu sein, doch tief im Herzen des Zuges, in einem vergessenen Abteil, wohnte jemand, nicht minder wach und doch von niemandem gesehen.
Ein Geist namens Ein Geist lebte dort schon seit unzähligen Jahren. Niemand wusste woher er kam oder was er vorher gewesen war. Nur eins war klar: Ein Geist hatte eine Mission – eine Mission, die sich um eine alte, strahlende Krone drehte, die einst von einem mächtigen König getragen wurde, aber nun verborgen und vergessen war.
Der Zug fuhr durch Wälder und Felder, durch Tunnels, der Dunkelheit gleich, und über glitzernde Flüsse hinweg. In jeder Stadt, in jedem Dorf, wo der Zug hielt, suchte Ein Geist nach Hinweisen auf den Verbleib der Krone. Doch niemand hatte je von der Krone gehört oder den Schimmer ihres Goldes erblickt. Ein Geist wusste, die Suche würde schwer, aber die Hoffnung glomm stets wie das Licht einer ewigen Kerze in seinem geisterhaften Herzen.
Ein Geist war nicht wie andere Geister, sein Wesen war warm und freundlich. Zuweilen konnte man ihn flüstern hören, ein zartes Wispern, das durch die Zugabteile strich wie eine sanfte Brise. Er beschützte die schlafenden Reisenden, deckte sie zu, wenn sie fröstelten, und gab Träumenden schöne Träume, voller Abenteuer und Freude.
Eines Nachts, als der Zug seine Reise antrat und der Mond sein bleiches Licht durch die Fenster warf, offenbarte sich Ein Geist eine Karte – mystisch und alt, versteckt unter einer Zugbank. — Na das sieht ja spannend aus, murmelte Ein Geist, während er die Karte entrollte und seine Augen über das Pergament wandern ließ. Sie zeigte eine Route, eine Schatzkarte vielleicht, nicht von dieser Welt, doch mit Linien, die dem Schienennetz verdächtig ähnelten.
Die nächste Station laut Karte war keine andere als der legendäre Haltepunkt 'Nebeldunst', eine Stadt, die auf keiner Karte der Menschen verzeichnet war, nur in Geschichten schlummernd, von Geistern und fahrenden Händlern erwähnt. Ein Geist spürte, dass die Krone in jener Stadt auf ihn wartete oder zumindest ein Hinweis auf ihren Verbleib.
Der Zug hielt nie in Nebeldunst, denn für die Menschen war dieser Ort nicht existent. Doch Ein Geist war kein Mensch und so nutzte er seine besondere Fähigkeit: Er ließ den Zug mit einem sanften Hauch seiner geisterhaften Präsenz innehalten.
— Was war das? Ein Stopp? Hier gibt es doch keinen Bahnhof, rief ein verwirrter Passagier in der Kälte der Nacht.
Doch als sie nach draußen blickten, sahen sie nur den dichten Nebel und das silbrig schimmernde Gleis, das in die Dunkelheit führte. Ein Geist hingegen sah mehr. Er sah die Konturen einer verborgenen Stadt, verschleiert im Nebel des Vergessens.
Mit einem leisen Säuseln, das kaum hörbarer war als das Rascheln alter Blätter, verließ Ein Geist den Zug und schritt in den Nebel. Nebeldunst erwachte vor seinen Augen, Gebäude und Straßen formten sich aus dem Dunst, und Wesen, die ebenfalls aus Nebel gemacht zu sein schienen, gingen ihren nächtlichen Geschäften nach.
Die Suche nach der Krone führte Ein Geist zu einem Antiquitätenhändler, dessen Laden prall gefüllt war mit Relikten längst vergangener Zeiten. — Guten Abend, fremder Reisender, wie kann ich dir behilflich sein? fragte der Antiquitätenhändler mit einer Stimme, die klang wie das Knistern alten Papiers.
Ein Geist erzählte von seiner langen Suche und der Krone. Der Händler lauschte aufmerksam und sagte: — Ach, die Krone der Weisheit! Ja, sie war hier, doch sie ist vor langer Zeit weitergezogen. Nach ihrer Bestimmung sucht sie, von denen getragen zu werden, die würdig sind und deren Herz rein.
— Aber wie kann ich der Krone folgen? Wie finde ich heraus, wer würdig ist? fragte Ein Geist.
— Dein Herz ist der Schlüssel, entgegnete der Händler. Es wird dich leiten. Folge deiner Intuition und denke daran, dass wahre Würde in den Tugenden liegt, die man lebt.
Eine neue Entschlossenheit erwachte in Ein Geist. Er verabschiedete sich vom Antiquitätenhändler und kehrte zum Zug zurück, just in dem Moment, als der Schaffner zum Aufbruch rief. Der Zug setzte seine Reise durch die Stille der Nacht fort, wobei Ein Geist jetzt wusste, dass seine Mission weit mehr als eine einfache Suche war. Es war eine Reise des Herzens.
In den folgenden Nächten beobachtete Ein Geist die Reisenden. Er sah die Guten unter ihnen, die Hilfsbereiten, die Kindern ihre Sitze anboten und Tränen mit freundlichen Worten trockneten. Er sah die Traurigen, deren Augen Geschichten erzählten, die sie niemals aussprachen und denen er Trost spendete, indem er sie in den Schlaf flüsterte.
Bis er eines Nachts eine Gestalt sah, die alleine in einem Abteil saß, umgeben von Büchern, die wie Sterne um sie herum leuchteten. — Hallo, Fremder, warum reist du mit so vielen Büchern? fragte Ein Geist, neugierig geworden.
— Oh, diese? Sie sind für die Kinder im Dorf am Rand des Waldes. Ich lehre sie lesen, damit sie die Welt besser verstehen und Träume haben können, die über ihren Horizont hinausgehen, erklärte die Gestalt sanft.
Ein Geist erkannte in dieser Gestalt etwas, das er zuvor nur zu spüren gewagt hatte: die Würde, die Reinheit eines Herzens, das geboren war, um die Krone der Weisheit zu tragen. In dieser Nacht, als der Mond seinen höchsten Punkt erreicht hatte, materialisierte sich die Krone vor der Gestalt und legte sich leicht auf ihren Kopf – ohne sie zu beschweren, vielmehr erfüllte sie sie mit einem glänzenden Licht.
Ein Geist wusste, seine Suche war beendet. Die Krone hatte ihren Würdenträger gefunden. In dem Moment, als sich die Krone niederließ, fühlte Ein Geist, wie etwas in ihm zur Ruhe kam. Seine Mission war erfüllt, und mit Stolz blickte er auf das Erreichte.
Von da an war Ein Geist nicht mehr nur der Hüter des Zuges, sondern auch der Wächter der Krone. Und in den Winternächten, wenn der Zug durch die verschneite Landschaft fuhr und der Sternenhimmel in der klaren Luft funkelte, konnte man, wenn man genau hinhörte, das leise Lachen eines Geistes hören, der wusste, dass er seine Aufgabe aufs Schönste erfüllt hatte.